Prof. Dr. Martin Damus, Osnabrück
Für Marion
Tischler gibt es keinen Anfang bei Null.
Sie geht nicht von einem weißen
Blatt Papier oder von der leeren Leinwand
aus. Etwas ist immer schon da. Die industrielle
Gegenstands- und ausufernde Bilderwelt
sind immer präsent, stehen ständig
vor Augen. Auf ihren Abbildern in Form
von Fotokopien aus Zeitschriften, der
Werbung und eigenen Fotografien entfaltet
sich die Malerei von Marion Tischler.
(...)
Marion Tischler
geht von dem aus, was sie umgibt, von
der städtischen Um- und Medienwelt,
von der Bilderflut, der alle Menschen
ausgesetzt sind. Sie kopiert redaktionelle
Abbildungen und Werbung aus Zeitschriften,
vergrößert dabei oder macht
Ausschnitte, wobei das gegenständlich
Dargestellte und seine Bedeutung sie sehr
viel weniger interessieren als die formalen
Strukturen, Konstellationen und Formen.
Für ihre Bilder wählt sie wiederum
nach formalen Kriterien Vorlagen aus,
die sie als Ganzes oder kombiniert mit
anderen auf die Vorderfläche und
um die Randflächen von quadratischen
Holzkästen klebt. Damit hat sie sich
einen Malgrund aus Elementen ihrer Umwelt
geschaffen, auf den sie reagieren, mit
dem sie sich auseinander-
setzen kann.
Bevor sie mit dem eigentlichen Malen,
für die sie bevorzugt Lackfarbe verwendet,
beginnt, färbt sie die auf die Kästen
aufgezogenen Fotokopien mit einer Beize
ein, wobei die grafische Struktur sichtbar
bleibt und breitet die nun verschieden
farbigen Kästen um sich herum aus.
Mit Farben und Formen reagiert sie auf
die Formen, linearen Strukturen usw. der
Fotokopien, setzt Gegengewichte, löscht
und übermalt, fügt ganz Neues
hinzu oder betont vorgegebene Formelemente.
Sie bleibt, auch weil die Lackfarbe sehr
langsam trocknet, nie lange bei einem
Bild, sondern arbeitet parallel an den
um sie herum ausgebreiteten Arbeiten.
In einem spielerischen Gestaltungsprozeß
entstehen immer neue Farb-Form-
Konfigurationen. Es gibt kein vorgesehenes
Ziel, keine Vorstellung von einem fertigen
Bild. Die Bilder entwickeln sich, das
Malen ist ein offener Prozeß. Mit
dem Übermalen wird Vorgegebenes überlagert,
verborgen, entsteht Neues aus bzw. auf
einer Vorlage. Eins ergibt sich aus dem
anderen. Nichts kann vorherbestimmt werden.
Denn mit dem Auftragen der Farbe, mit
farbigen Formbildungen werden immer neue
Farb-Form-Assoziationen ausgelöst.
Auf diese Weise
entstehen Bilder, die oft kaum noch etwas
und manchmal gar nichts von dem erahnen
lassen, was ihnen als Grundlage diente.
Und doch ist die unterste Schicht des
Bildes, die Fotokopie, die Voraussetzung
für das fertige Bild. (...)
Marion Tischler
(...) reagiert mit ihren Bildern auf die
alles durchdringende Industrie-zivilisation,
auf die Waren-, Werbe- und Medienwelt.
Sie nimmt diese weder so hin wie sie ist,
noch negiert sie diese. Vielmehr bezieht
sie die unüberschaubar vielfältige
Gegenstandswelt und Bilderflut in ihre
Arbeit ein und entwickelt ausgehend von
diesen im Prozeß des Malens etwas
Neues und Eigenes. Die vorgegebenen, ursprünglich
aufdringlichen Bilder sind in ihrer Malerei
aufgehoben in des Wortes doppelter Bedeutung.
(...) in einem
Prozeß der Transformation, beginnend
mit der Schwarz-Weiß-Kopie, dem
Vergrößern und Montieren verwandelt
sie die Bilderwelt der Industriezivilisation
in reine Malerei.
Marion Tischler
(...) stellt sich die Frage, was heute
Malerei, was heute ein Bild sein kann.
Die hochglänzende Lackfarbe, die
mehr in der Industrie als in der Kunst
zur Anwendung kommt, gebraucht sie auch,
weil sie eine Tradition nicht fraglos
fortsetzen will. Sie malt ihre Bilder
nicht auf Leinwand, Holz oder andere Platten,
die - üblicherweise gerahmt - flach
an der Wand hängen. Sie baut Kästen
(...). Diese Bildkörper, um deren
Seitenflächen die Malerei sich herumzieht,
ragen in den Raum hinein. (...) Ihre auf
Holzplatten gemalten Bilder befestig sie
mit Abstand an der Wand, läßt
sie vor ihr schweben. Marion Tischler
hat auch Pocket-Bilder gemalt,
Bilder, so groß und so handlich
wie Kreditkarten. Auch hier stellt sie
sich die Frage, was heute ein Bild sein
kann.
Mit ihrer
dekorativen, oft auch ornamental wirkenden
Lackmalerei hat Marion Tischler die Bilderwelt
der Industriezivilisation transformiert,
sich anverwandelt. Sie hebt diese Bilderwelt
in ihren Bildern, in ihrer Malerei auf,
entwickelt für sie ein neues Gesicht.
Eben weil es ihr um diesen Transformationsprozeß
geht und nicht um abstrakte Negation,
ist ihr das, was darunter ist so wichtig
wie das, was zu sehen ist. Es gelingt
ihr mit der Bilderflut, der sich andere
ausgeliefert fühlen, zu spielen und
transformierend und schrittweise verdeckend
und verbergend in ihre Bilder einzuschließen.
Ihre Malerei und das ist Marion Tischler
wichtig, verbirgt immer etwas, gibt, was
sie in sich aufgenommen hat, nicht wieder
her und vermittelt gleichzeitig eine Ahnung
von dem, was, zumindest eine Ahnung davon,
daß etwas darunter ist.
aus dem Katalog zur Ausstellung Marion
Tischler, Stadtgalerie Osnabrück,
2000
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